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Goethe als Maler: Die Leiden des alten Meisters

Als Dichter ist Goethe früh eine Berühmtheit, doch er will auch als Künstler reüssieren. Italien bereist er gar als »deutscher Maler«. Bis er sich eingesteht: Ich kann es nicht.
Goethe, gemalt von Georg Melchior Kraus (um 1775)
Das Gemälde von Georg Melchior Kraus zeigt Goethe als Mittzwanziger. Der Dichter begriff sich als genauen Beobachter. Doch er haderte zeitlebens mit seinen Fähigkeiten der zeichnerischen Umsetzung.

Dichter, Dramatiker, Theatermacher, Minister, Montanunternehmer, Naturwissenschaftler, Philologe: All das war Goethe – zwar mit wechselndem Erfolg, aber beharrlich. Diese Vielseitigkeit machte ihn auch international zum wohl einflussreichsten deutschen Denker.

Johann Wolfgang von Goethe aber wollte noch mehr sein als das. Besonders hatte es ihm die bildende Kunst angetan – wenn wir seinen Lebenserinnerungen glauben dürfen, bereits dem Knaben Wolfgang, der als Bürgerssohn im Wohlstand eines gebildeten Frankfurter Milieus aufwuchs. Sein Vater Johann Caspar war Kaiserlicher Rat und sammelte regionale Kunst. Johann Wolfgang Textor, sein Großvater von Mutterseite, war Schultheiß, also oberster Richter Frankfurts.

Den Siebenjährigen faszinieren die großformatigen Stiche italienischer Landschaften, die der Vater von seinen Reisen mitbringt und im Elternhaus am Großen Hirschgraben 23 im Treppenhaus aufhängen lässt. Früh pflanzen sie ihm die Sehnsucht nach Italien ein – untrennbar verbunden mit der Lust, selbst ähnlich eindrückliche Kunstwerke zu schaffen. Als französische Truppen im Jahr 1759 Frankfurt besetzen, quartiert sich der Königsleutnant (Statthalter) François de Théas von Thoranc für zwei Jahre in Goethes Elternhaus ein. Zwar gerät er über die Ereignisse des Siebenjährigen Kriegs in schweren Streit mit Johann Caspar Goethe, der nur um Haaresbreite dem Gefängnis entgeht. Aber der Graf ist ebenfalls Kunstnarr und fördert mit seiner Sammelleidenschaft gezielt lokale Maler wie Johann Conrad Seekatz, der auch die Familie Goethe einmal porträtierte.

Der kleine Wolfgang kennt die Frankfurter Talente bereits persönlich, nun malen sie direkt in seinem ausgeräumten Kinderzimmer im Haus am Hirschgraben, der Junge sitzt dabei und beobachtet. So entstehen mehr als 200 Bilder, von denen viele heute wieder in dem Haus hängen, in dem sie gemalt wurden. Der Junge lernt, genauestens hinzusehen – ein besseres Bildungsprogramm ist kaum vorstellbar. Der Graf interessiert sich sogar für »Wölfchens« Meinung.

Vom Sehen zum Machen ist es für Johann nur ein kleiner Schritt, und tatsächlich ist der junge Goethe zuerst Künstler und erst danach Dichter: Er habe sich angewöhnt, die Gegenstände wie die Künstler »in Bezug auf die Kunst anzusehen … und ich fing an, auf die ungeschickteste Weise nach der Natur zu zeichnen«, schreibt er später in seinem autobiografischen Werk »Dichtung und Wahrheit«. Der neunjährige Wolfgang erhält wie viele Kinder seines Standes auch privaten Zeichenunterricht. »Zeichnen müsse jedermann lernen, behauptete mein Vater«, schreibt er selbst. Und getreu dem Motto seines Faust »Grau ist alle Theorie« muss er stets alles selbst ausprobieren, um es zu erfahren. Muss eintauchen in eine Aktivität oder Existenzform, anstatt sie sich nur vorzustellen.

Bettine von Arnim ergattert einen frühen »Goethe«

Goethes früheste zeichnerische Versuche sind größtenteils verloren. Ob er selbst sie ausgesondert hat oder ob sie den unsteten Lebensumständen seiner frühen Jahre zum Opfer fielen? Einige von ihnen rettet seine Mutter Catharina, zum Beispiel ein 19 Zentimeter hohes Blättchen des etwa 15-Jährigen, das eine Flusslandschaft mit einem Bergfried zeigt; Bettine von Arnim wird seine Besitzerin. Die romantische Dichterin schwärmt den doppelt so alten Dichterfürsten derart an, dass sie sich an »Mutter Aja« heranmacht, um auf diesem Umweg ihrem Idol näherzukommen. Diese verehrt ihr die Zeichnung. Sie zeigt eine Schwäche von Goethes Kunst, die auch Goethe selbst klar erkennt: »Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen durch die Mittelgründe heran, so fürchtete ich immer, dem Vordergrund die gehörige Kraft zu geben, und so tat denn mein Bild nie die rechte Wirkung.« Ihm fehlt es an der Routine, dasjenige dunkel und kontrastreich wiederzugeben, was in Wirklichkeit dunkel und kontrastreich ist. Nie verließ ihn die Sorge, mit einigen voreiligen Strichen ein Bild zu verderben und sich selbst nur einmal mehr zu beweisen: Ich kann es nicht.

»Sizilianische Landschaft« | Das Bleistift- und Aquarellbild malte Goethe wohl um 1787. Aus seiner Hand sind insgesamt 2600 Werke erhalten. Wirklich zufrieden war er mit den Ergebnissen seines Könnens aber nicht.

Diese Schwäche haben seine Radierungen nicht. Mit der druckgrafischen Technik beschäftigte er sich 1768 als Student in Leipzig, schreibt Petra Maisak, die ehemalige Museumsleiterin des Frankfurter Goethe-Hauses. Beim Ätzradieren werden die Linien in beschichtete Metallplatten geritzt, die Platten einem Säurebad ausgesetzt und anschließend gedruckt. Weiche, zaghafte Linien sind nur bedingt möglich, der notwendige Kontrast ist nicht länger allein Sache der geübten Hand.

Erhalten blieb auch ein sorgfältig ausgeführtes Porträt, das der 24-Jährige von seiner einzigen Schwester Cornelia anfertigte – eineinviertel Jahre jünger als er selbst und beinahe wie ein Zwilling für ihn. Durch den Vergleich mit einer fast zeitgleichen Darstellung Cornelias von Johann Ludwig Morgenstern sehen wir: Goethe hat die wesentlichen Merkmale von Cornelias Gesicht, die ausgeprägte Nase, das scharfe Profil, korrekt erfasst. Er ist ein außerordentlich genauer Beobachter, wie ihm Künstlerfreunde wiederholt bestätigten. Dennoch wirkt das Bild ästhetisch unbefriedigend, es gelingt Goethe nicht, dem Gesicht Leben einzuhauchen. Bis in den letzten Strich bleibt es ein zaghafter Versuch.

Kunstpausen verderben das Kunstgeschick

Akademisch ausgebildete Künstler haben in seinem Alter bereits Jahre der Erfahrung im Kopieren Alter Meister hinter sich. Deren Sicherheit fehlt Goethe zeitlebens – besonders gut sichtbar bei schnellen figürlichen Darstellungen, die fast immer pennälerhaft wirken. Niemals wird er aufholen, zumal er sich zwischen den einzelnen Phasen der künstlerischen Produktivität jahrelange Pausen erlaubt: »Ich mußte immer wieder von vorne anfangen, wenn ich eine Zeitlang ausgesetzt hatte.« Dazu kommt seine unselige Vorliebe für ausgerechnet die schwierigsten Sujets: Laubmassen, Mondnächte, atmosphärische Erscheinungen, Feuer. Man betrachte nur die Illustrationen zu seinem Drama »Faust« aus den Jahren zwischen 1800 und 1812.

Wenn er nicht gerade »Kunstpause« macht, sind Feder, Stift, Wasserfarben und »Portefeuille« (Zeichenmappe) Goethes unerlässliche Begleiter auf Reisen. Architektur, Landschaft und Bildnis seine bevorzugten Genres. Über 3000 meist kleinformatige Arbeiten auf Papier entstehen. Ab Anfang der 1770er Jahre werden sie größtenteils aufgehoben; sein früher Ruhm trägt dazu bei. Große Formate über etwa DIN A3 fehlen fast völlig, ebenso jeglicher Versuch, in Öl zu malen wie Seekatz oder andere Vorbilder aus seiner Kindheit. Ein Hinweis darauf, dass der Dichterfürst sich als Künstler niemals sicher fühlte.

»Aufgehender Mond am Fluss« | Goethes unselige Vorliebe für die schwierigsten Sujets zeigt sich auch in dieser Zeichnung mit brauner Kreide.

Auf einer anderthalbjährigen Italienreise will der 37-Jährige es nun wirklich wissen. Nach den Maßstäben seiner Zeit hat er gut die Hälfte seines Lebenswegs hinter sich gebracht; seine Schwester Cornelia und sein etwa gleichaltriger Autorenkollege Ludwig Hölty zum Beispiel sind bereits verstorben.

Eingezwängt in Weimars höfische Konvention fühlt er sich verbraucht und ausgeschrieben, als er heimlich in einer Septembernacht 1786 aufbricht aus Karlsbad, wo er den Gebräuchen der Feudalklasse entsprechend mit dem Hofstaat kurt. Wie Goethe-Biograf Richard Friedenthal schreibt, erfährt selbst sein herzoglicher Freund und Chef Carl August nur nachträglich durch ein schriftliches Urlaubsgesuch vom Reiseziel des Dichters. Er lässt großzügigerweise nicht nur dessen Ministergehalt weiterlaufen, sondern erhöht es sogar um 200 Taler jährlich. Goethes Amtspflichten werden weitgehend auf repräsentative Aufgaben beschränkt.

Als »Pittore tedesco« zieht Goethe Richtung Italien

Da ihn das Jugenddrama vom »Götz von Berlichingen« und der Liebesroman »Die Leiden des jungen Werthers« 15 Jahre zuvor europaweit berühmt gemacht haben – sogar der junge Napoleon verschlingt den »Werther« mehrmals –, reist er allein und inkognito unter dem wenig originellen Namen Johann Philipp Möller. Ziemlich mutig für einen künstlerischen Dilettanten, aber aufschlussreich ist seine Berufsangabe: »Pittore tedesco«, also deutscher Maler. Diese neue Identität erlaubte es ihm, anders als Personen von Stand ohne Begleitung von Bedienten zu reisen und nicht den Verdacht zu wecken, er sei ein feindlicher Agent, der Gefährliches im Schilde führe. Oder wollte er mit dem Alias auf eine seiner wichtigsten Ambitionen hindeuten?

Bereits auf der Anreise stellte Goethe fleißig seine Stationen dar: den Brenner, Rovereto, Vicenza, Venedig. In Malcesine am Gardasee gerät er tatsächlich in Schwierigkeiten mit den örtlichen Behörden. In seinem Reisetagebuch schildert er den Volksauflauf, den er provoziert, als er die verwahrloste Burgruine zu zeichnen versucht. Der Ortsvorsteher hält ihn für einen Spion der Österreicher, die als Feinde Venedigs unbeliebt sind. Nur seine guten Italienischkenntnisse retten ihn und die Intervention eines früheren »Gastarbeiters«, der die Frankfurter Verhältnisse kennt.

Unbekümmert mischt sich Goethe unter die Mitglieder der deutschen Künstlerkolonie in Rom, wohnt bei dem Hessen Johann Heinrich Wilhelm Tischbein in der Via del Corso nahe dem Palazzo Borghese – der schon damals eine der spektakulärsten Kunstsammlungen der Welt beherbergte. Tischbein ist ihm verpflichtet, da er Goethe ein Kunststipendium für Italien verdankt. Goethe geht mit der gefeierten Historienmalerin und Porträtistin Angelika Kauffmann zum Zeichnen ins Museum und gewinnt einen Freund fürs Leben, den Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer. Sein »wunderliches und vielleicht grillenhaftes Halbinkognito« (Goethe) ist längst aufgeflogen, doch die Freunde beschließen, es nicht an die große Glocke zu hängen, dass der große Goethe in Rom weilt. In der Via del Corso entsteht eine Künstler-Wohngemeinschaft, Goethe ist für vier Monate Teil von ihr. Das Haus heißt heute Casa di Goethe, ganz so wie Tischbein als »Goethe-Tischbein« und Meyer als »Goethe-Meyer« in die Kunstgeschichte eingingen.

In der Künstler-WG | Die Zeichnung von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein aus dem Jahr 1787 zeigt Goethe in der Wohnung in der Via del Corso in Rom. Der Dichter packt hier laut handschriftlicher Aufschrift »das verfluchte zweite Küssen (Kissen)«.

Am Ende ein Eingeständnis

Künstlerisch erkundet Goethe Rom und seine Umgebung, zeichnet Landschaften und Gebäude. Weiter zieht er nach Süden, begleitet von dem Maler Christoph Heinrich Kniep; Sizilien ist sein Ziel. In Neapel lernt er den Berliner Maler Philipp Hackert kennen, der als bedeutender Landschafter gilt und seit Neuestem Hofmaler des Bourbonenkönigs Ferdinand IV. ist. Der König hat Hackert eine großzügige Villa in seiner Residenzstadt Caserta zur Verfügung gestellt, Goethe zieht ein und wird Hackerts Schüler. Diesem mag eine lukrative Nebentätigkeit vorgeschwebt haben, als er, Goethe zufolge sogar »sehr oft«, sagte: »Wenn Sie 18 Monate bei mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und andere Freude haben.«

So viel Zeit nimmt sich der Geheimrat nicht für die Kunst. Er hat ohnehin ein dickes Arbeitspaket im Gepäck: die Einzelausgaben und Manuskripte seiner Werke. Denn vor seiner Abreise hat er mit dem Verleger Göschen einen Vertrag über eine achtbändige Gesamtausgabe seiner Werke abgeschlossen. Das Stückige seiner Existenz möchte er wenigstens in dieser Werkausgabe zusammenfügen.

Aus Sizilien kehrt er zurück nach Rom. Tischbein ist inzwischen weitergezogen, nach Neapel, damals Europas viertgrößter Stadt, um Aufträge zu suchen. Goethe bezieht dessen Zimmer in der Via del Corso und nimmt anatomische Studien an Skulpturen in den Museen auf.

Ein Sturm über den Bergen von Nocera | »Wenn Sie 18 Monate bei mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und andere Freude haben.«

Am Ende seines Italienaufenthalts gesteht er sich ein: »Täglich wird mir’s deutlicher, daß ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin … Von meinem längern Aufenthalt in Rom werde ich den Vorteil haben, daß ich auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht tue.« Noch als 70-Jähriger wird Goethe resümieren, »daß ich in Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war, um mich selber insoweit zu kennen, daß ich kein Talent zur bildenden Kunst habe«.

Selbst wenn Goethe als Künstler zurücktritt: Seine Besessenheit von der Kunst bleibt. Und besonders die von Atmosphäre und Farben. Ihr verleiht er unermüdlich dichterischen Ausdruck. Jahrelang arbeitet er an einer Lehre von den Farben und der Optik. Sie erscheint 1810, eines seiner umfangreichsten und ambitioniertesten Werke. Er lässt es sogar mit selbst gezeichneten farbigen Tafeln ausstatten. »Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein«, sagt er noch im hohen Alter zu seinem Sekretär Johann Peter Eckermann. »Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute.«

Einen »halben Maler« hat Freund Tischbein ihn genannt; ein ganzer zu werden, ist Goethe ein Leben lang nicht gelungen.

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